BVerfG bekräftigt strenge Voraussetzungen für Entzug der elterlichen Sorge

zu BVerfG, Beschluss vom 19.11.2014 - 1 BvR 1178/14.

BVerfG bekraeftigt strenge Voraussetzungen fuer Entzug der elterlichen Sorge

Die Entziehung der elterlichen Sorge ist nur dann zulässig, wenn das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Voraussetzung dafür ist, dass das Kind bereits geschädigt wurde oder mit ziemlicher Sicherheit geschädigt werden wird. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 19.11.2014 entschieden und seine strengen Anforderungen an die Entziehung des Sorgerechts bekräftigt. Wolle sich das entscheidende Gericht auf ein Sachverständigengutachten stützen, müsse es dieses sorgfältig würdigen und eventuelle Zweifel an der Verwertbarkeit ausräumen (Az.: 1 BvR 1178/14).

 

Beschwerdeführer wurde Sorgerecht für seine Tochter entzogen

 

Das Amtsgericht entzog dem aus Ghana stammenden Beschwerdeführer wie auch der psychisch kranken Mutter das Sorgerecht für ihre 2013 geborene Tochter. Das Kind lebt in einer Pflegefamilie, der Beschwerdeführer hat mit ihm begleitete Umgangskontakte. Die vom Beschwerdeführer gegen die Entscheidung des AG eingelegte Beschwerde wies das Oberlandesgericht zurück und stützte sich dabei maßgeblich auf das Gutachten des Sachverständigen. Der Beschwerdeführer erhob anschließend Verfassungsbeschwerde und rügte eine Verletzung seines Elternrechts.

 

BVerfG: Sorgerechtsentziehung nur, wenn Kind bereits geschädigt ist oder ziemlich sicher erheblich geschädigt werden wird

 

Das BVerfG hat die Entscheidung des OLG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Die Entscheidungen des AG und des OLG verletzten den Beschwerdeführer in seinem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Art. 6 Abs. 3 GG erlaube es nur dann, ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen zu trennen, wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht. Laut BVerfG muss das elterliche Fehlverhalten dafür ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Dies setze voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Nach Ansicht des BVerfG genügen die Feststellungen des AG und des OLG zur Gefährdung des Kindeswohls diesen Anforderungen nicht.

 

Gerichte übernahmen mangelhaftes Sachverständigengutachten ungeprüft

 

Das BVerfG moniert, dass beide Gerichte die Feststellungen des im Verfahren vorgelegten Sachverständigengutachtens im Wesentlichen ohne eigene Würdigung übernommen haben, obwohl die Verwertbarkeit des Gutachtens erheblichen verfassungsrechtlichen Zweifeln unterliege, welche die Gerichte nicht ausgeräumt hätten. Das Sachverständigengutachten stelle nicht die gebotene Frage nach einer nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls. Vielmehr prüfe es die Erziehungsfähigkeit der Eltern in einer Weise, die nicht darüber aufklären könne, ob eine Gefahr für das Kindeswohl bestehe. So sei die Erziehungseignung der Eltern unter anderem danach beurteilt worden, ob diese dem Kind vermittelten und vorlebten, dass es «sinnvoll und erstrebenswert ist, zunächst Leistung und Arbeit in einer Zeiteinheit zu verbringen, sich dabei mit anderen messen zu können und durch die Erbringung einer persönlichen Bestleistung ein Verhältnis zu sich selbst und damit ein Selbstwertgefühl aufbauen zu können» und ob die Eltern den Kindern ein «adäquates Verhältnis zu Dauerpartnerschaft und Liebe vorleben».

 

Eltern müssen ihre Erziehungsfähigkeit nicht positiv beweisen

 

Das damit als Maßstab für die Erziehungsfähigkeit des Beschwerdeführers zugrunde gelegte Leitbild verfehle die von Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG geschützte primäre Erziehungszuständigkeit der Eltern, so das BVerfG. Eltern müssten ihre Erziehungsfähigkeit nicht positiv «unter Beweis stellen». Vielmehr setze eine Trennung von Eltern und Kind umgekehrt voraus, dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststeht. Außerdem dürfe der Staat seine eigenen Vorstellungen von einer gelungenen Kindererziehung grundsätzlich nicht an die Stelle der elterlichen Vorstellungen setzen. Daher könne es keine Kindeswohlgefährdung begründen, wenn die Haltung oder Lebensführung der Eltern von einem von Dritten für sinnvoll gehaltenen Lebensmodell abweicht und nicht die aus Sicht des Staates bestmögliche Entwicklung des Kindes unterstützt.

 

Hinweise für Voreingenommenheit der Sachverständigen

 

Zweifel an der Verwertbarkeit des Gutachtens ergeben sich für das BVerfG auch deshalb, weil sich Hinweise dafür fänden, dass die Sachverständige dem Beschwerdeführer gegenüber voreingenommen war. Darauf deuteten zahlreiche Feststellungen zu Lasten des Beschwerdeführers hin, die in keinem erkennbaren Zusammenhang zu der jeweiligen von der Gutachterin aufgeworfenen Frage stehen. Zudem habe die Sachverständige Äußerungen und Verhaltensweisen des Beschwerdeführers ebenso wie seine von der Gutachterin wiederholt in den Vordergrund gerückte Herkunft aus einem afrikanischen Land in sachlich nicht nachvollziehbarem Maße negativ bewertet.

 

Unverwertbares Gutachten schließt verfassungsmäßige Sorgerechtsentziehung nicht aus

 

Das BVerfG weist darauf hin, dass die angegriffenen Entscheidungen trotz der Mängel des Gutachtens verfassungsmäßig hätten sein können, wenn sie die Mängel des Gutachtens thematisiert, die fachliche Qualifikation der Sachverständigen näher geklärt und nachvollziehbar darlegt hätten, inwiefern Aussagen aus dem Gutachten gleichwohl verwertbar seien und zur Entscheidungsfindung beitragen können. Selbst bei völliger Unverwertbarkeit des Gutachtens wären die Entscheidungen verfassungskonform gewesen, wenn sich das Vorliegen einer die Trennung von Kind und Vater rechtfertigenden Kindeswohlgefährdung aus den Entscheidungsgründen auch ohne Einbeziehung der Sachverständigenaussagen hinreichend nachvollziehbar ergeben hätte.

 

Fachgerichte müssen Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit der dem Kind drohenden Schäden darlegen

 

Laut BVerfG verfehlen die angegriffenen Entscheidungen nämlich die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gefahrenfeststellung unter anderem auch deshalb, weil sie zwar mögliche Defizite bei der Erziehungsfähigkeit des Beschwerdeführers anführten, aber die Art, Schwere und Wahrscheinlichkeit der deswegen befürchteten Beeinträchtigungen des Kindes nicht angäben und nicht darlegten, weshalb diese Gefahren so gravierend seien, dass sie eine Fremdunterbringung legitimieren. Stützten die Gerichte eine Trennung des Kindes von den Eltern - wie hier - auf Erziehungsdefizite und ungünstige Entwicklungsbedingungen, aus denen die erhebliche Kindeswohlgefährdung nicht ausnahmsweise geradezu zwangsläufig folge, müssten sie sorgfältig prüfen und begründen, weshalb die daraus resultierenden Risiken für die geistige und seelische Entwicklung des Kindes die Grenze des Hinnehmbaren überschreiten.