Stößt eine Radfahrerin, die den Radweg einer bevorrechtigten Straße entgegen der Fahrtrichtung befährt, mit einem aus einem verkehrsberuhigten Bereich auf den Radweg einbiegenden Radfahrer zusammen, kann eine Haftungsquote von 2/3 zulasten des Radfahrers und 1/3 zulasten der Radfahrerin gerechtfertigt sein. Das hat das Oberlandesgericht Hamm mit Urteil vom 06.06.2014 entschieden (Az.: 26 U 60/13).
Sachverhalt:
Im September 2010 fuhr die seinerzeit 59 Jahre alte Klägerin auf einem Fahrradweg entgegen der Fahrtrichtung. Der seinerzeit 14 Jahre alte Beklagte kam mit seinem Fahrrad aus dem verkehrsberuhigten Bereich einer Seitenstraße, um nach rechts auf den von der Klägerin benutzten Radweg abzubiegen. Im Einmündungsbereich beider Straßen stießen die Fahrräder zusammen. Die Klägerin stürzte und zog sich einen Bruch des Schienbein- und des Wadenbeinkopfes zu. Vom Beklagten hat sie 100%-igen Schadenersatz verlangt und gemeint, er habe den Unfall allein verschuldet. Der Beklagte habe mit in falscher Richtung fahrenden Radfahrern auf der bevorrechtigten Straße rechnen müssen.
OLG: Beklagter unachtsam eingebogen:
Das OLG Hamm hat der Klägerin Schadenersatz mit einer Haftungsquote von 2/3 zu ihren Gunsten und 1/3 zu ihren Lasten zuerkannt. Ausgehend hiervon hat er ihr unter Berücksichtigung eines bereits von der Haftpflichtversicherung des Beklagten gezahlten Schmerzensgeldes von 4.500 Euro weitere 3.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen. Der Beklagte habe den Unfall überwiegend verschuldet. Er habe gegen § 10 StVO verstoßen. Hiernach habe er vom verkehrsberuhigten Bereich nur so auf die bevorrechtigte Straße einbiegen dürfen, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei. Dem habe der Beklagte nicht genügt, weil er die Klägerin durch sein unachtsames Einbiegen auf den Radweg zu Fall gebracht habe.
Mitverschulden wegen Fahrens entgegen der Fahrtrichtung:
Die Klägerin treffe allerdings ein Mitverschulden, weil sie den Radweg entgegen der Fahrtrichtung benutzt und so gegen § 2 Abs. 4 StVO verstoßen habe. Bei der Abwägung der beiderseitigen Verschuldens- beziehungsweise Mitverschuldensbeiträge wiege der Verkehrsverstoß des Beklagten schwerer als der der Klägerin. Dem gemäß § 10 StVO verpflichteten Beklagten gegenüber habe der gesamte fließende Verkehr der bevorrechtigten Straße Vorrang, auch ein den Radweg in verkehrter Richtung benutzender Radfahrer. Das Mitverschulden der Klägerin trete allerdings nicht vollständig hinter das Verschulden des Beklagten zurück.
Klägerin durfte nicht auf Vorfahrtsrecht vertrauen:
Die Klägerin habe die Gefahrensituation voraussehen können, nachdem sie den Radweg vorsätzlich in der für sie nicht freigegebenen Fahrrichtung befahren habe. Ausgehend hiervon habe sie nicht darauf vertrauen dürfen, dass ihr grundsätzliches Vorfahrtsrecht beachtet werde. Sie habe sich vielmehr auch auf dessen Missachtung einstellen müssen, zumal der betroffene Einmündungsbereich wegen Bewuchses nur schlecht einsehbar gewesen sei. Deswegen habe sie eine Fahrweise wählen müssen, bei der sie einem für sie von links kommenden Fahrzeug hätte ausweichen können. Es sei daher angemessen, ihr Mitverschulden mit 1/3 zu berücksichtigen.