Die Hochschulen dürfen nicht aus eigener Kompetenz Studienplätze außerhalb der Zulassungszahlenverordnungen vergeben. Dies gilt insbesondere dann, wenn dadurch für abgelehnte Studienplatzbewerber eine effektive gerichtliche Kontrolle der Kapazitätsfestsetzungen vereitelt wird. Dies hat der Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg mit Urteil vom 30.05.2016 entschieden (Az.: 1 VB 15/15).
Erfolglose Bewerbung um Studienplatz
Der Beschwerdeführer bewarb sich zum Wintersemester 2013/2014 um einen Studienplatz im Studiengang Medizin an der Universität Heidelberg für den Studienort Mannheim. Da die Zulassungszahl für diesen Studienort vom Wissenschaftsministerium auf 204 Plätze festgesetzt worden war, bewarb er sich auch um die Erteilung eines Studienplatzes außerhalb der festgesetzten Zulassungszahl. Die Bewerbungen wurden mit der Begründung abgelehnt, dass es über die festgesetzte Zahl hinaus keine weiteren Studienplätze gebe. Nachfolgend strengte der Beschwerdeführer ein Eilverfahren an, das sich gegen die Rechtmäßigkeit der durch Rechtsverordnung festgesetzten Zulassungszahl von 204 Plätzen richtete.
Universität meldete 15 Studienplätze per E-Mail nach
Dabei stellte sich heraus, dass die Universität die Zulassungszahl wegen einer ein früheres Semester betreffenden Gerichtsentscheidung für nicht kapazitätserschöpfend gehalten und 15 Studienplätze ohne vorherige Kontaktierung des Wissenschaftsministeriums zur weiteren Vergabe im zentralen Verfahren nachgemeldet hatte. Die formlose Nachmeldung war von den Verwaltungsgerichten im Ausgangsverfahren im Umfang von zehn Plätzen als zulässig anerkannt worden, sodass der Beschwerdeführer die fehlerhafte Berechnung der Studienplatzkapazität im Umfang von jedenfalls zehn Studienplätzen nicht mehr geltend machen konnte.
VerfGH: Beschwerdeführer in Recht auf Bildung verletzt
Der Verfassungsgerichtshof hat nunmehr entschieden, dass die angegriffenen Gerichtsentscheidungen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Ausbildung aus Art. 11 Abs. 1 LV in Verbindung mit der in Art. 25 Abs. 2 LV verankerten Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht verletzen. Nach Art. 11 Abs. 1 LV habe jeder junge Mensch ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung. Aus Art. 11 Abs. 1 LV könne ein subjektives Teilhaberecht auf Bildung abgeleitet werden, das jedoch im Einzelnen der staatlichen Ausgestaltung bedarf. Habe der Staat öffentliche Erziehungs- oder Ausbildungseinrichtungen geschaffen, sei Art. 11 Abs. 1 LV als landesrechtliches Grundrecht auf – insbesondere im Hinblick auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage – gleichen und der jeweiligen Begabung entsprechenden Zugang zu diesen Einrichtungen zu verstehen.
Ausgestaltung der Teilhaberechte an Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu orientieren
Soweit es um die Ausgestaltung dieses Teilhaberechts aus Art. 11 Abs. 1 LV gehe, seien die sich aus dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 23 Abs. 1 LV) ergebenden Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 25 Abs. 2 LV) und des Vorbehalts des Gesetzes zu beachten. Der Gesetzgeber müsse alle Entscheidungen, die für die Wahrnehmung grundrechtlicher Ansprüche wesentlich seien, selbst treffen. Der Vorbehalt des Gesetzes und das darin enthaltene Bindungsgebot bezögen sich nicht nur auf Parlamentsgesetze, sondern auch auf sonstiges materielles Recht, wie zum Beispiel Rechtsverordnungen, die aufgrund einer formell-gesetzlichen Ermächtigung erlassen werden. Auch die transparente Normierung durch eine Rechtsverordnung schaffe Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit für die Normunterworfenen und diene damit dem in Art. 23 Abs. 1 LV verankerten Rechtsstaatsprinzip. Ferner bilde auch die Rechtsverordnung eine Grundlage für die Rechtskontrolle der Verwaltung durch die Gerichte.
Vergabe nicht offiziell ausgewiesener Studienplätze unzulässig
Die kapazitätsbezogene Einschränkung des Hochschulzulassungsrechts von Studierenden berühre die Studienbewerber in ihrem Teilhaberecht und sei vom Gesetzgeber oder aufgrund eines Gesetzes zur regeln. Die Hochschulen des Landes dürften im Regelungsbereich der Zulassungszahlenverordnungen aus eigener Kompetenz keine dort nicht ausgewiesenen Studienplätze vergeben. Die durch Art. 11 Abs. 1 LV garantierte effektive gerichtliche Kontrolle von Kapazitätsfestsetzungen dürfe nicht durch eine Vergabe von im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens ermittelten zusätzlichen Studienplätzen vereitelt werden, bei der die Studienbewerber nicht berücksichtigt werden, welche die verwaltungsgerichtliche Kontrolle der festgesetzten Zulassungszahlen herbeigeführt haben; dies gelte unabhängig davon, ob sie im regulären Verfahren zum Zug gekommen wären. Eine solche Behandlung der klagenden Bewerber würde der in Art. 67 Abs. 1 LV und Art. 19 Abs. 4 GG enthaltenen Garantie des Individualrechtsschutzes widersprechen.
Formlose Nachmeldung zur Erhöhung der Zulassungszahl verletzt Teilhaberecht
Danach liege eine Verletzung von Art. 11 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 25 Abs. 2 LV festzustellen, da die Vorinstanzen die Vergabe von durch die Universität formlos an die Stiftung nachgemeldeten Studienplätzen im Hinblick auf diese Verfassungsnormen nicht beanstandet haben. Eine formlose Nachmeldung von Studienplätzen durch einen Mitarbeiter der Hochschule an die Stiftung für Hochschulzulassung in der Absicht, die normierte Zulassungszahl zu erhöhen, unterlaufe die aus diesem Grundsatz abgeleiteten und dem Schutz des Teilhaberechtes dienenden Zwecke. Durch die formlose Nachmeldung weiterer im Rahmen des zentralen Vergabeverfahrens zu verteilender Studienplätze werde der Kern des Hochschulzulassungswesens – nämlich die Festlegung des konkreten "numerus clausus" – einer Kontrolle des Verordnungsgebers sowie einer öffentlichen Bekanntmachung und damit der Transparenz beraubt.
Hochschule kann sich nicht auf selbst erkannten Kapazitätsberechnungsfehler berufen
Die Hochschule könne sich nicht auf den selbst erkannten Kapazitätsberechnungsfehler berufen, weil sie diesen in intransparenter Weise korrigiert und die Studienbewerber hierüber nicht informiert habe. Der Beschwerdeführer habe nur den unzutreffenden Hinweis erhalten, dass sich die Kapazität aus der entsprechenden Zulassungszahlenverordnung ergebe. Im Übrigen könne dem grundrechtlich abgeleiteten Kapazitätserschöpfungsgebot sowie dem Gebot, einer möglichst einheitlichen und sachgerechten Vergabe der Studienplätze an grundsätzlich gleichberechtigte Studienbewerber nicht allein im Rahmen des zentralen Vergabeverfahrens, sondern auch bei der Vergabe der über die festgesetzte Zulassungszahl hinaus ermittelten Studienplätze Rechnung getragen werden. Dies gelte insbesondere dann, wenn – wie hier nach § 24 Satz 2 und 3 VergabeVO Stiftung – bei der Vergabe von Studienplätzen außerhalb der festgesetzten Zulassungszahlen an Kriterien angeknüpft werde, die auch im zentralen Vergabeverfahren Anwendung finden.
Beschwerdeführer kann Anspruch auf Zulassung außerhalb festgesetzter Zulassungszahlen haben
Das Erfordernis einer rechtsförmigen Erhöhung der Zulassungszahlen führe daher mit Blick auf das Recht auf gleiche Teilhabe an geschaffenen Ausbildungskapazitäten nicht zu unerträglichen Ergebnissen. Es sei auch nicht erkennbar, dass dem zuständigen Wissenschaftsministerium die Änderung der Zulassungszahlenverordnung nicht möglich gewesen wäre. Die Universität habe erst Ende September 2013 die festgesetzte Zulassungszahl neu berechnet der Stiftung formlos eine neue – nach Auffassung des Verwaltungsgerichts aber ebenfalls unzutreffende – Zahl mitgeteilt. Ob der Beschwerdeführer Anspruch auf Zulassung außerhalb der festgesetzten Zulassungszahlen hat, bedürfe der weiteren tatsächlichen Prüfung. Die Ausgangsgerichte hätten die Zahl von zehn formlos nachgemeldeten Studienplätzen zumindest vorläufig anerkannt, sodass der Beschwerdeführer zumindest außerhalb der festgesetzten Zulassungszahlen einen Anspruch auf Zulassung haben könne.
Beschwerdeführer an Vergabe nicht kapazitätswirksam vergebener Plätze zu beteiligen
Der Beschwerdeführer wäre an einer Vergabe der nicht kapazitätswirksam vergebenen Plätze zu beteiligen. Nach § 24 Satz 3 VergabeVO Stiftung habe sich die Vergabe von Zulassungen außerhalb der festgesetzten Kapazität an den Vergabekriterien im zentralen Vergabeverfahren zu orientieren, wenn die Hochschule für die Bewerber um diese Zulassungen entsprechende Ranglisten erstellt hat. Die Regelungen seien vom Bundesverwaltungsgericht für verfassungskonform gehalten worden, wobei es davon ausgegangen sei, dass die Norm so ausgelegt werde, dass bei der Vergabe zunächst die an einem Kapazitätsprozess beteiligten Studienbewerber nach Maßgabe dieser Norm befriedigt würden, dass im Übrigen die Vergabe jedoch nicht auf die an einem Kapazitätsprozess beteiligten Studienbewerber beschränkt wäre. Der Vorrang der rechtsschutzsuchenden Bewerber bei der Verteilung von Plätzen außerhalb der festgesetzten Zulassungszahl folge aus der bundesrechtlichen Ausgestaltung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes als Individualrechtsschutz.