Der Lauf begann um 7:00 Uhr. Das hatte zur Folge, dass der Handywecker um 4:00 Uhr in der Nacht klingeln musste. Das wiederum hatte zur Folge, dass ich die ganze Nacht hoffte, dass der Handywecker auch tatsächlich klingeln werde. Sonst wäre ich umsonst 10.000 Kilometer geflogen, hätte mich umsonst wochenlang gequält und sonntags frühmorgens Marathonläufe als Trainingsläufe absolviert. Aber der Handywecker klingelte - überflüssigerweise, denn ich war sowieso wach - hellwach, und das fast die ganze Nacht.
Mir war klar, dass es ab 40 Kilometer egal war wie ich geschlafen hatte. Dann würde es hart werden, wenn ich überhaupt so weit komme. Ich bin nämlich noch nie weiter gelaufen als 45 Kilometer und in Kapstadt sollten es 56 Kilometer werden - zudem mit zwei Steigungen.
Wochenlang haben meine Frau und ich uns vorbereitet und sind im Winter bei Schnee, Regen und Kälte lange Strecken gelaufen. Hoffentlich kann sich unser Körper auf die sommerlichen Temperaturen hier in Kapstadt umstellen.
Nach einem Frühstück, zu dem ich mich überwand, nach dem Vorbild von Herbert, dem mentalen Lehrer meiner Frau, eine halbe Tafel Schokolade zu essen, fuhren meine Frau und ich zur Universität, zum Zieleinlauf. 15.000 Läufer bildeten jedoch selbst morgens um 6:00 Uhr ein Verkehrsproblem und somit gab es schon auf der Autobahn einen Stau. Die begehrten Parkplätzen in der Nähe des Zieles waren natürlich auch weg. Start und Ziel in Kapstadt befinden sich drei Kilometer voneinander entfernt und so musste die Entscheidung gefällt werden, drei Kilometer zum Start zu laufen oder drei Kilometer nach dem Rennen zum Auto. Wir entschieden uns, wie wohl die meisten der Läufer, für die Variante Lauf zum Start. Auf Grund des riesigen Andranges mussten wir jedoch weiter weg parken und aus den drei wurden vier Kilometer.
Vier Kilometer Gehen bis zum Start eines 56 Kilometer Laufes ist schon eine eigenartige Sache.
Auf Grund der Tatsache, dass der Lauf nach Süden führte, dann um und über einen Berg und wieder zurück, konnte die Route auch nicht anders gelegt werden. Wir wussten dies, da wir die Strecke am Vortag mit dem Auto abgefahren sind. Dies sollte man sich doch genau überlegen, denn während der Autofahrten denkt man ständig darüber nach, ob so eine Strecke überhaupt zu bewältigen ist. Unsere Kinder, die mit im Auto saßen, schüttelten während der gesamten Fahrt nur ungläubig den Kopf. Wahrscheinlich hielten sie uns für völlig verrückt. Wir uns jedenfalls in dem Moment auch.
Dennoch standen wir um 7:00 Uhr am Start. Die Stimmung war vergleichbar mit einem Volksfest, insbesondere deshalb, weil sich auch noch schönes Wetter ankündigte. Meine Frau erblickte einen Läufer mit einer Fahne, der als Pacemaker die Strecke unter sieben Stunden laufen wollte. Da meine Frau traditionell zu schnell anläuft, entschloss sie sich spontan, sich der Gruppe anzuschließen und der Anleitung des erfahrenen Läufers zu vertrauen.
Ich laufe lieber allein und vertraue mir selbst. Meine Taktik ist langsam zu beginnen, viel zu trinken, und ab Kilometer 30 flexibel zu reagieren. Langsam angelaufen bin ich tatsächlich und habe mich auch nicht davon irritieren lassen, dass ich ständig von sich unterhaltenden und lachenden Läufern überholt wurde. Viel getrunken habe ich auch. Es gab mehr als 30 Stationen, die kalte Trinkbeutel austeilten. Diese Beutel konnte man aufbeißen und im Laufen bequem aussaugen. Am Ende hatte ich ca. 50 Beutel getrunken und 50 Beutel über mich geschüttet, denn es wurde richtig heiß.
Bis Kilometer 22 war die Luft noch kühl und die Strecke verlief eben auf einer breiten Straße durch Kapstadt und dann am Indischen Ozean entlang. Viele Läufer liefen barfuss, einige waren schwer übergewichtig, was verwunderlich war, denn als Qualifikation musste ein normaler Marathon unter 5 Stunden gelaufen worden sein.
Nicht verwunderlich waren für mich inzwischen die üblichen alten Männer, die mich überholten. Kleine Männer mit wenig Haaren, krummen Beinen und auf der Startnummer die Zahl von über 20 (mal an diesem Lauf teilgenommen). Na ja, in 10 Jahren halte ich mit denen vielleicht auch mit.
Bis Kilometer 22 fühlte ich mich körperlich recht wohl, obwohl mir die noch fehlenden 34 Kilometer und die Anstiege schon zu denken gaben.
Bei Kilometer 22 bog die Strecke in Fishhoek vom Meer nach Westen ab und durchquerte den sechs Kilometer breiten Landstreifen. Jetzt war es schon so heiß, dass ich jeden dritten Beutel Wasser auf mich spritzte. Richtig heiß wurde es dann aber auf dem An- und Abstieg zum Chapmanspeak. Hier verlief die Strecke über eine in den Felsen gehauene Straße am Meer entlang in die Höhe und dann wieder abwärts. Die Sicht war atemberaubend und ließ einen jede Müdigkeit vergessen: rechts die Felswand, links der Abgrund und das Meer und vor und hinter mir der "Gaudiwurm", wie ich die Schlange von Läufern zu nennen pflege.
Diese Traumstrecke zog sich von Noordhoek nach Houtbay von Kilometer 28 bis 40.
Danach begann, und so wird es auch überall beschrieben, das eigentliche Rennen, der eigentliche Lauf oder der Kampf. Die nächsten 5 Kilometer zogen sich durch mehrere Dörfer hoch zum Constantianek. Eine heiße, nicht enden wollende Anstrengung. Zudem hatte ich das emotionale Problem, bei Kilometer 40 eigentlich immer am Ende meiner Kräfte zu sein und bei 42 Kilometer aufhören zu dürfen. Es war ein eigenartiges Gefühl, nach 42 Kilometer weiter zu laufen und zu wissen, dass noch 14 Kilometer kommen werden.
Die Zuschauer wurden weniger und so konnte ich mich auch ungestört auf meinen Schmerz konzentrieren. Als dann bei Kilometer 43 ein Mann ohne Beine (mit zwei Gehilfen) mich recht zügig überholte, muss ich mehrere Minuten lang gehen und in jeder Hinsicht mehrfach durchatmen. Auch der Gedanke, dass jeder Läufer irgend ein Handicap hat, und die meisten auch damit schneller sind als ich, konnte mich nicht wirklich überzeugen. Dieser Teil der Strecke war sowohl körperlich als auch emotional hart, denn ich befürchtete immer noch, dass der Mann mit dem Hammer zuschlägt und ich vielleicht aufgeben muss.
Bei Kilometer 45 ging es ein langes Stück bergab, dann wieder bergauf. Dann tauchte die Streckenmarkierung mit der Zahl 50 Kilometer auf. Diese Zahl hatte ich bisher noch bei keinem Lauf gesehen und jetzt war mir mit einem Schlag klar, dass ich es schaffen werde. Ich werde den Lauf in der vorgegebenen Zeit zu Ende bringen - egal wie.
Es wurden dann 6:30 Stunden, da am Ende „plötzlich" und „völlig überraschend" Steigungen auftauchten, die ich so nicht in Erinnerung hatte. Dennoch war ich mehr als zufrieden, und die Zuschauer wohl auch, denn die haben toll bei meinem Einlauf geklatscht.
Der Zieleinlauf war mehrere 100 Meter lang, sodass die Zuschauer genügend Platz hatten und der Läufer auch Zeit, das Bad in der Menge zu nehmen. Dieses habe ich auch wirklich genossen.
30 Minuten später lief meine Frau und ihre Gruppe ein und wir strahlten über beide Ohren: Der erste Ultramarathon, und wir haben ihn in der Zeit geschafft. Keinem war schlecht und wir hatten auch noch genügend Kraft, nach dem Feld mit dem Bierausschank zu suchen. Und nächstes Jahr werden wir wieder kommen und so schnell laufen, dass wir im Ziel ankommen, bevor das Bier ausgegangen ist.